«Non vado più oltre, resto qui» (Ich gehe nicht weiter, ich bleibe hier), soll Giovanni Segantini (1858–1899) bei seiner Ankunft in Savognin ausgerufen haben. Das war im August 1886. Bis 1894 lebte der international bekannte Maler mit Frau und Kindern in dem beschaulichen Bergbauerndorf an der rege frequentierten Julierstrasse. Zahlreiche seiner grossen Werke entstanden dort. In seinen symbolisch aufgeladenen Bildern verarbeitete er Motive aus dem bäuerlichen Dorf- und Alpleben; sein besonderes Augenmerk galt der Landschaft und dem ungebrochenen Licht der Hochgebirgswelt.
Dass der achtjährige Aufenthalt Segantinis im Oberhalbstein heute touristisch vermarkt wird, erstaunt kaum. Der vom Parc Ela erarbeitete Segantini-Spaziergang durch Savognin lädt dazu ein, «den Spuren des weltbekannten Künstlers ... durch Savognin» zu folgen und «die Landschaft und Motive, die ihn einst zu seinen Bildern inspirierten» zu entdecken. Nicht selten führt der Rundgang die Besucher:innen an Orte, die sich heute ganz anders präsentieren als zu Segantinis Zeit – die mit dem Einzug des Massentourismus in den 1960er-Jahren einsetzende Bautätigkeit hat die alten Strukturen markant überformt und auch das einst ausserordentlich reiche baukulturelle Erbe von Savognin empfindlich dezimiert. Den im Bild Ritorno all’ovile (1888) verewigten Stall etwa «gibt es nicht mehr», wie auch der titelgebende Holzbalkon von Sul balcone (1892) an der Veia Sur Ual 16–18 verschwunden ist. Und auch der Schauplatz von La portatrice d’aqua (1886/87), dem ersten Bild, das Segantini in Savognin gemalt hat, zeigt sich durch wenig attraktive Neubauten komplett verändert. Unverständlicherweise verpasst es der Führer allerdings auf ein Gebäude hinzuweisen, das im Hintergrund von Riposo all’ombra (1892) dargestellt ist, und das heute noch besteht: die Tgea Jenatsch an der Veia Sur Ual 10 im Ortsteil Sogn Mitgel.
Die Tgea Jenatsch integriert einen Kernbau des ausgehenden 15. bzw. frühen 16. Jahrhunderts. Durch den jahrzehntelangen Leerstand blieb sie von modernen Umbauten weitgehend verschont. Aufgrund ihres selten authentischen Erhaltungszustands gehört sie zu den wertvollsten alten Bauernhöfen der Region. 2021 wurde das Bauernhaus von der kantonalen Denkmalpflege inventarisiert und als schützenswertes Gebäude eingestuft.
Geht es nach dem Willen der derzeitigen Eigentümer, soll das historische Haus einer Wohnüberbauung weichen. Das betreffende Baugesuch lag im Sommer 2022 auf. Seither hat der Bündner Heimatschutz die Gemeinde in mehreren Schreiben dazu angehalten, dem Neubauprojekt die Baubewilligung zu verweigern und sich um den Schutz des wertvollen Komplexes zu kümmern. Denn irritierenderweise steht das Gebäude nicht unter kommunalem Schutz – ein Versäumnis, dass es bei der laufenden Grundordnungsrevision unbedingt nachzuholen gilt.
Im Februar 2023 wurde in Savognin selbst eine Unterschriftensammlung lanciert. Die Unterzeichnenden fordern die Gemeinde dazu auf, die Tgea Jenatsch unter kantonalen Schutz stellen zu lassen. Damit wäre nicht nur deren Erhalt gesichert, gewährleistet wäre damit auch, dass die kantonale Denkmalpflege beigezogen würde, sollte das Bauwerk restauriert werden. Der Bündner Heimatschutz unterstützt dieses Anliegen.
Savognin tut sich seit jeher schwer, sein gebautes Erbe adäquat zu schützen. In den letzten Jahrzehnten ging viel wertvolle Bausubstanz verloren. Dabei gibt es in dem ganzen baukulturellen Elend auch Lichtblicke. So etwa die sorgfältige Restaurierung der Tgesa Caminada im Ortsteil Sot Curt, die nun für Ferien im Baudenkmal vermietet wird. Das zuvor leerstehende und als 'baufällig' abgeschriebene Gebäude war 2018 vom heutigen Eigentümer auf der Immobilien-Plattform des Schweizer Heimatschutzes marchepatrimoine.ch entdeckt, danach erworben und denkmalpflegerisch korrekt für heutige Bedürfnisse instand gestellt worden. Wir hoffen, dass sich die Gemeinde private Initiativen wie diese zum Vorbild nimmt und ihrer Verantwortung gegenüber dem schüzenswerten Baubestand nachkommt. Damit wäre das Weiterleben der Tgea Jenatsch gesichert und verhindert, dass Savognin um ein weiteres Baudenkmal ärmer wird.