Am 11. März 2012 nahmen Stimmberechtigte und Stände die chancenlos scheinende Volksinitiative «Schluss mit uferlosem Bau von Zweitwohnungen!» an. Damit wurde die Schweizerische Bundesverfassung um Art. 75b ergänzt, der besagt: «Der Anteil von Zweitwohnungen am Gesamtbestand der Wohneinheiten und der für Wohnzwecke genutzten Bruttogeschossfläche einer Gemeinde ist auf höchstens 20 Prozent beschränkt.»
Mit dem 2016 eingeführten Zweitwohnungsgesetz (ZWG) hat der Gesetzgeber beträchtliche Abweichungen vom Verfassungsauftrag beschlossen: Beinahe alle vor dem 12. März 2012 erstellten und bewilligten Wohnungen können in Zweitwohnungen umgenutzt werden. Für diese ist zudem eine Erweiterung der Hauptnutzfläche um 30% erlaubt (Art. 11 ZWG). Weitere Ausnahmen gelten für die Hotellerie (Art. 8 Abs. 4 ZWG) sowie für ortsbildprägende Bauten ohne bisherige Wohnnutzung innerhalb der Bauzone (Art. 9). Mit diesen zahlreichen Ausnahmen kam man der Tourismus- und Bauwirtschaft in den betroffenen Bergregionen entgegen. Einerseits wollte man den Neubau von Zweitwohnungen deutlich reduzieren, zugleich aber auch den Unterhalt der vorhandenen Bausubstanz sichern und Rechtssicherheit beim Status der altrechtlichen Wohnungen gewährleisten.
Die Folgen dieses extrem liberalen Gesetzes machen sich heute in den touristischen Hotspost deutlich bemerkbar: Die Umnutzung von Erst- in Zweitwohnungen wurde angeheizt. Der finanzielle Anreiz ist beträchtlich: Die Zürcher Kantonalbank hat berechnet, dass der Preisaufschlag zwischen einer Erst- und einer Zweitwohnung in derselben Gemeinde heute zwischen 19 und 26 Prozent liegt. Von den zehn Gemeinden mit dem höchsten Anstieg der Immobilienpreise sind sechs vom ZWG betroffen. Diese prekäre Situation ist nicht, wie vielfach behauptet, eine Folge der Zweitwohnungsinitiative, sondern eine Folge des Zweitwohnungsgesetzes.
Für die Immobilienbesitzer mag es attraktiv sein, ihre Objekte zum höheren Preis an Auswärtige zu verkaufen. Die Gemeinden können damit auch kurzfristig ihre Einnahmen aus Grundstückgewinnsteuern erhöhen. Für die Dorfgemeinschaft und ihre langfristige Perspektive hingegen ist es bedenklich, wenn die Häuser im Ortszentrum während elf Monaten nicht genutzt werden und sich die Bevölkerung den Wohnraum in der eigenen Gemeinde nicht mehr leisten kann. Verschärft wird das Problem durch das revidierte Raumplanungsgesetz, das (richtigerweise) eine bauliche Verdichtung nach innen verlangt.
Im Unterengadin hat sich mit dem Verein Anna Florin eine politische Bewegung formiert mit dem Ziel, dem Druck des Zweitwohnungs-Immobilienmarkts entgegenzuwirken. Unter anderem fordert Anna Florin zur Anwendung von Art. 12 ZWG auf, der Kanton und Gemeinden dazu verpflichtet, «bei Bedarf» Massnahmen zu ergreifen, «die nötig sind, um Missbräuche und unerwünschte Entwicklungen zu verhindern, die sich aufgrund einer unbeschränkten Nutzung altrechtlicher Wohnungen zu Zweitwohnzwecken ergeben können.»
Zu einem Zeitpunkt, da die schädlichen Auswirkungen des äusserst liberalen Zweitwohnungsgesetzes so richtig spürbar werden, soll noch mehr Wohnraum der Ortsansässigen für Ferienwohnungen weichen. Im Juni 2020 reichte der Bündner Nationalrat Martin Candinas die Parlamentarische Initiative «Unnötige und schädliche Beschränkungen des Zweitwohnungsgesetzes in Sachen Abbruch und Wiederaufbau von altrechtlichen Wohnungen aufheben» ein. Sie zielt auf eine Revision des ZWG bzw. eine weitere Verwässerung in der Umsetzung von Artikel 75b BV. So sollen altrechtliche Wohnungen ohne Nutzungsbeschränkungen vergrössert und in verschiedene Erst- und Zweitwohnungen unterteilt werden dürfen (heute darf die Wohnfläche nur vergrössert werden, wenn keine zusätzlichen Wohnungen geschaffen werden). Zudem sollen diese Bedingungen ebenfalls gelten, wenn bestehende Bauten abgerissen und neu aufgebaut werden. Drittens soll dies alles auch möglich sein, wenn der Wiederaufbau verschoben auf dem gleichen Grundstück erfolgt.
Eine weitere Lockerung des Zweitwohnungsgesetzes ist angesichts der Situation auf dem Immobilienmarkt in den Tourismusgebieten geradezu zynisch. Candinas’ Forderungen würden die Preisspirale weiter anheizen und der ortsansässigen Bevölkerung noch mehr Wohnraum entziehen. Der Verein Anna Florin sieht in der vorgeschlagenen Liberalisierung denn auch einen «Brandbeschleuniger» für die Wohnungsnot.
Der Bündner Heimatschutz hat sich an der Vernehmlassung zur Revision des ZWG beteiligt. Er lehnt die Gesetzesrevision ganz klar ab.
Drei Gründe sprechen gegen die Vorlage: Erstens erhöht sie insbesondere in den touristischen Zentren den Druck auf den ohnehin ausgetrockneten Mitwohnungsmarkt für Einhemische. Zweitens ist eine Abbruchpolitik mit Blick auf die Treibhausgasemissionen nicht mehr zeitgemäss und drittens sind die Auswirkungen auf das gebaute Erbe und die Ortsbilder absehbar stark negativ.
Stellungnahme des Bündner Heimatschutzes zur Revision des Zweitwohnungsgesetzes vom 17. Februar 2023
Der Bündner Heimatschutz fordert eine Zweitwohnungspolitik, die Baukultur und Landschaft als zentrale Elemente eines nachhaltigen und qualitätsorientierten Tourismus anerkennt und fördert
Mit der Annahme der Zweitwohnungsinitiative 2012 haben die Schweizer Stimmberechtigten dem wuchernden Bau von Ferienhäusern einen Riegel geschoben. Es stünde der Berggebietslobby gut an, den Verfassungsauftrag zur Begrenzung des Zweitwohnungsanteils in den Gemeinden endlich zu akzeptieren und für innovative Formen der nachhaltigen Entwicklung in den touristischen Regionen einzustehen. Dass dies passiert, ist wohl eher ein frommer Wunsch. Am 10. Februar 2023 hat die Bündner Regierung verkündet, dass sie die fatale Lockerung des ZWG unterstützt.