Fünf Jahre nach Fläsch – und nach einer Reihe von Auszeichnungen an Agglomerationsräume und Regionalzentren – ging der Wakkerpreis erneut nach Graubünden: ins Bergell. Erstmals seit Vrin 1998 würdigte der Schweizer Heimatschutz nach knapp 20 Jahren wieder die raumplanerischen Bemühungen einer bündnerischen Berggemeinde, die mit Entvölkerungsproblemen zu kämpfen hat – und der Fachkreise unter dem Schlagwort der «alpine Brache» ihre Zukunftsfähigkeit abgesprochen hatten. Zugleich ging die Auszeichnung erstmals an eine Bündner Fusionsgemeinde.
Bei Alpinistinnen beliebt wegen seiner schwindelnd-steilen Gebirgsketten, dem Kunstfreund bekannt als Heimat der Giacometti, vom Touristiker idealisiert zu einem Landstrich voll «verträumter Schönheit» und «romantischer Urtümlichkeit»: das enge Bergtal an der Grenze zu Italien, Bregaglia genannt oder Bergell auf deutsch, ist mit vielen Mythen behaftet. In der Schwärmerei über die archaische Kraft dieser Gebirgsgegend vergisst man leicht, dass sie auch – und vor allem – Lebens- und Arbeitswelt von mehreren hundert Menschen ist.
Das Passtal im Süden Graubündens gehört unzweifelhaft zu den eindrücklichsten und intaktesten Kulturlandschaften – schweizweit. In den zu Haufen geballten Siedlungen mit ihren engen Gassen, wo die steinerne Bauweise das Bild beherrscht, stehen prunkvolle Palazzi neben einfachsten Bauernhöfen, barocke Ziergärten neben Nutzgärten, Jahrhunderte altes Gemäuer neben modernen und zeitgenössischen Bauten von ausserordentlicher Qualität, die sich zwangslos ins historische Gefüge einzugliedern verstehen.
Im 20. Jahrhundert verlor die einst prägende Berglandwirtschaft an Bedeutung, Wasserkraftnutzung und Tourismus brachten Geld und neue Arbeitsplätze (und neuartige Bauten) ins Tal – doch vermochten sie die Abwanderung nicht nachhaltig zu stoppen.
1803 zählte das Bergell 2170 Einwohner:innen, 1990 lebten noch 1434 Bewohner:innen im Tal. Die traditionsreichen politischen Gemeinden – Stampa, Vicosoprano, Bondo, Castasegna und Soglio – hatten zunehmend Mühe, sich eigenständig zu behaupten. Sie kämpften mit den Problemen aller Kleingemeinden: Geldmangel, hoher Steuerfuss und Schwierigkeiten bei der Bestellung von Ämtern. Um die Gemeinden zu konsolidiern, setzt der Kanton seit einigen Jahren auf das Rezept der Gemeindefusion, die er mit gesetzlichen Vorstössen und finanziellen Anreizen zu fördern sucht.
2010 schlossen sich die fünf Bergeller Gemeinden zur Talgemeinde Bregaglia zusammen.
Die Fusion der fünf Gemeinden mit ihrem je eigenen Selbstbewusstsein eröffnete die Chance, mit einer Gesamtstrategie bestehende Stärken zu erkennen und daraus neue Ziele zu formulieren, die einen Mehrwert für das ganze Tal schaffen. Die neue Talgemeinde erkannte die intakte Kulturlandschaft, die bis heute eine einmalige Symbiose von Landschaft und Siedlung darstellt, als wertvollen Standortvorteil – nicht nur für den Tourismus, sondern auch für die Wohn- und Lebensqualität der ansässigen Bevölkerung. So wurde ein Bündel von Massnahmen getroffen, um den Erhalt und die Belebung des reichhaltigen Bestands zu ermöglichen und architektonische Qualität zu fördern.
Die meisten ehemaligen Gemeinden des Tals hatten ihre Bauzonen bereits vor der Fusion kompakt und am richtigen Ort angelegt. Dadurch blieben die Übergänge zwischen den historischen Dorfkernen und der Kulturlandschaft von der Zersiedelung verschont. Mit Quartierplänen, Gestaltungsvorschriften und der Definition von Ausbauetappen wurde die Entwicklung der Baulandreserven in koordinierte Bahnen gelenkt. Für einen sorgfältigen Umgang mit dem wertvollen Bestand in den historischen Dorfkernen verfügt die Gemeinde über ein umfangreiches Bauinventar und präzise Schutzzonen. Darin sind nicht nur die unbestrittenen architektonischen Höhepunkte erfasst; ebenso wurden unscheinbare, aber nicht minder prägende Elemente wie die zahlreichen Nutz- und Ziergärten samt ihren Umfassungsmauern als wichtige Bestandteile des Siedlungsbildes erkannt und geschützt. Dies soll keinen Stillstand zementieren, sondern dient dazu, das Potential des Vorhandenen zu erkennen und dieses sinnvoll und verträglich zu aktivieren.
Alle Bauprojekte in den Dorfkernen und in den quartierplanpflichtigen Gebieten werden von Anfang an durch eine obligatorische professionelle Bauberatung begleitet. Diese fachliche, im frühstmöglichen Zeitpunkt ansetzende Beratung stützt sich nicht auf die Durchsetzung von rigiden Regeln, sondern trägt pragmatisch zur Suche nach angemessenen und gangbaren Lösungen bei. Dabei steht nicht nur der Einzelbau, sondern ebenso die nähere Umgebung und das Ortsbild als Ganzes im Fokus. Den Interessen des Einzelnen soll ebenso Rechnung getragen werden wie dem gemeinschaftlichen Ziel des Erhalts der gebauten Identität.
Spaziergänge im Bergell
online gestellt vom Schweizer Heimatschutz
Baukultur entdecken: Bergell, Wakkerpreis 2015
hrsg. vom Schweizer Heimatschutz, Zürich 2015
Architekturrundgänge in Graubünden: Bergell
Hrsg. vom Bündner Heimatschutz, Chur 2012
Mit der Wakkerpreis-Vergabe 2015 anerkannte der Schweizer Heimatschutz das planerische Engagement der Fusionsgemeinde Bergell zum Erhalt, zur Belebung und zur Weiterentwicklung ihres historisch wertvollen Bestands. Gleichzeitig ging es ihm darum, darauf hinzuweisen, dass die schweizerischen Kulturlandschaften und Ortsbilder im 21. Jahrhundert nicht nur durch bauliche Verdichtung und das Siedlungswachstum, sondern ebenso von einer schleichenden Entvölkerung ganzer Landstriche bedrängt sind. Die Gemeinde Bergell, so erklärte der Heimatschutz, zeige exemplarisch auf, wie in solchen Gebieten tradierte Baukultur eine identitätsstiftende Basis bildet, die es als ökonomischen und gesellschaftlichen Wert zu erkennen gilt.
Warum das Bergell den Wakkerpreis bekommt
Radio srf, Regionaljournal Graubünden, 20.1.2015