Drei Jahre nach Splügen ging der Wakkerpreis 1998 an die abgelegene Berggemeinde Vrin. In der Auszeichnung von Vrin widerspiegelt sich das neue Selbstverständnis des Heimatschutzes als einer Organisation, die sich einer ganzheitlichen Sicht auf das Bewahren verpflichtet fühlt. Neben der vorbildlichen Pflege alter Ortskerne wurde verstärkt auch das sorgfältige Integrieren neuer Bauten in die bestehenden Siedlungsgebiete ins Zentrum gerückt. In Vrin bestimmte mit Gion A. Caminada ein Architekt das Geschehen, der das Weiterbauen am Dorf ebenso als Dialog mit der Bevölkerung, wie als architektonische und ortsbauliche Aufgabe verstand.

Modellgemeinde im Berggebiet

Im Rahmen der Studie ‹Bergdorfsanierung› wurde 1944/45 anhand einer Untersuchung von Vrin beispielhaft aufgezeigt, wie man die technische Modernisierung der Landwirtschaft mit der Erhaltung eines Dorfbilds vereinbaren könnte. Prägende Persönlichkeit dieser im Auftrag der Forschungs- und Beratungsstelle für Landarbeitstechnik, des Schweizerische Bauernverbands und des Schweizer Heimatschutzes verfassten Projekts war neben dem Techniker H. Schüpbach Architekt Iachen Ulrich Könz – derselbe Könz, der während des Zweiten Weltkriegs aus dem engadinischen Guarda so etwas wie den Idealtypus des Schweizer Bergdorfs machte.

J.U. Könz. Vrin, in: Heimatschutz 1945/3–4, S. 93
«Vrin. Häuser und Ställe im nördlichen Dorfteil, alle viel zu eng beisammen, als dass ein gedeihliches Wirtschaften möglich wäre.» J.U. Könz
H. Schüpbach. Warum und wie man Bergdörfer umgestalten sollte, in: Heimatschutz 1945/3–4, S. 108
«Vrin. Eng zusammengebaute Ställe und Wohnhäuser, schlecht belichtet, ohne Zufahrtsmögllichkeit; aus den Miststöcken läuft die Gülle in die Gasse (keine Jauchegruben!)» H. Schüpbach

«Die Bewohner der Bergdörfer sind Bauern und von ihrer Alpwirtschaft müssen sie leben können. Erst wenn jedes Berggütchen als Ganzes auf gesunden Füssen steht, wird der Bauer auch das Wohnhaus und die wirtschaftlichen Gebäude schrittweise umgestalten können. Die Dorferneuerung im Alpgebiet muss also mit der Gesundung jedes einzelnen Betriebes beginnen; erst dann bekommen auch die der Allgemeinheit dienenden Verbesserungen ihre Berechtigung.» (H. Schüpbach)

Die Studie zeigte auf, dass die kleinbäuerlichen Strukturen nicht mehr überlebensfähig waren. Schüpbach und Könz plädierten für eine radikale Zusammenlegung der zerstückelten Güter und eine Mechanisierung von deren Bewirtschaftung, eine bessere Einrichtung der Wirtschaftsgebäude und die Aussiedlung der Höfe an den Dorfrand, um den Bergbauern bessere Arbeits- und Wohnbedingungen zu ermöglichen.

H. Schüpbach. Warum und wie man Bergdörfer umgestalten sollte, in: Heimatschutz 1945/3–4, S. 106
Jachen Ulrich Könz und H. Schüpbach propagierten eine «Auskernung» der bestehenden Siedlung vor
H. Schüpbach. Warum und wie man Bergdörfer umgestalten sollte, in: Heimatschutz 1945/3–4, S. 106
Neue Bauernhöfe am Siedlungsrand sollten eine moderne Landwirtschaft und ein gesünderes Wohnen ermöglichen
J.U. Könz

Vrin
Heimatschutz 1945/3–4, S. 90–100

H. Schüpbach

Warum und wie man Bergdörfer umgestalten sollte
Heimatschutz 1945/3–4, S. 101–112

Im Fokus der Denkmalpflege

Die Abwanderung, die man mit dem Dorferneuerungsprojekt von 1944/45 hatte eindämmen wollen, schritt nach dem Zweiten Weltkrieg unvermindert voran. Zwischen 1950 bis 1980 verringerte sich die Einwohnerzahl Vrins von rund 440 auf 266.

Filmporträt 1970
Vrin 1970

Balcun tort – Ils da Vrin (1970)
© Radiotelevisiun Svizra Rumantscha

Durch den krassen Bevölkerungsschwund blieb die historische Bausubstanz der Gemeinde in dieser Zeit weitestgehend bewahrt. Das von den Spuren der Moderne fast unbehelligte Vrin mit seinen intakten Häusergruppen, durchsetzt mit alten Ställen und von schmalen Gassen, weckte das Interesse der Denkmalpflege.


Anlässlich des Europäischen Jahrs für Denkmalpflege und Heimatschutz 1975 beauftragte die Bündner Regierung die kantonale Denkmalpflege mit der Ausarbeitung eines Siedlungsinventars, das als Instrument der Siedlungspflege dienen sollte. Das Grossprojekt sah die Strukturanalyse aller Bündner Dörfer vor – wurde nach wenigen Jahren aus Kostengründen aber wieder eingestellt. Unter der Leitung von Peter Zumthor wurde im Lugnez mit den Arbeiten begonnen. Für Vrin liegt ein 1976 publiziertes Siedlungsinventar vor, das in seiner Systematik Modellcharakter besitzt. Es beschränkt sich nicht auf die Untersuchung einzelner Gebäude, sondern analysiert den Siedlungskörper als Ganzes. Die Veröffentlichung der fundierten Studie sollte die Bevölkerung für die vorhandenen baukulturellen Werte sensibilisieren – und sie dafür gewinnen, das Inventar zur Grundlage für planerische Massnahmen des Ortsbildschutzes zu machen. 1979 wurde die erste Vriner Ortsplanung genehmigt.

Doppelseite aus Peter Zumthors Siedlungsinventar Vrin von 1976
Doppelseite aus Peter Zumthors Siedlungsinventar Vrin von 1976

Pro Vrin: die Melioration in gute Bahnen lenken

Das Jahr 1979 markiert auch die Gründung der Stiftung Pro Vrin, die sich «die Wahrung der kulturhistorischen und architektonischen Substanz und Verbesserung der Wohn- und Betriebsverhältnisse in Vrin sowie in den übrigen Fraktionen der Gemeinde» zum Ziel setzte. Dem ganzheitlichen Ansatz zum Trotz, fokussierte die Tätigkeit der Pro Vrin anfangs vornehmlich auf den Erhalt des «Hauses am Platz». Im Auftrag der Stiftung verfasste Peter Zumthor als nunmehr selbständiger Architekt 1981 die Studie Dorfplatz Vrin. Vorschläge zur Pflege und Sanierung der historischen Bausubstanz. Auf Empfehlung Zumthors wurde das Haus am Platz abgebrochen und durch eine originalgetreue Rekonstruktion ersetzt.

«Gesamtanblick von Vrin. Nur einzelne Blechdächer stören das einheitliche Bild. Doch die umgebende Flur zeigt die starke Güterzerstückelung und das Fehlen von Feldwegen, was eine gute Bewirtschaftung erschwert.» (H. Schüpbach, 1945)
«Gesamtanblick von Vrin. Nur einzelne Blechdächer stören das einheitliche Bild. Doch die umgebende Flur zeigt die starke Güterzerstückelung und das Fehlen von Feldwegen, was eine gute Bewirtschaftung erschwert.» (H. Schüpbach, 1945)
(© Lucia Degonda, Zürich)
Im Rahmen einer Gesamtmelioration wurden die Bodennutzung neu organisiert und 20 km Güterwege für die Landbewirtschaftung gebaut

Derweil schritt in der Gemeinde die Gesamtmelioration voran – ein radikaler Umbau der Landwirtschaft, im Zuge dessen die ursprünglich 3400 Wiesenstücke auf 610 neue Parzellen verteilt, 20 km Erschliessungsstrassen erstellt, die Bewirtschaftung mechanisiert sowie grössere und tiergerechtere Ställe gebaut werden sollten. Dass dieses monumentale Projekt entscheidenden Einfluss sowohl auf die Landschafts- wie auf die Dorfstruktur haben würde, war absehbar. Entsprechend konnte sich ernsthafter Orts- und Heimatschutz auch nicht auf die Erhaltung von Fassaden beschränken.
 

1986 erhielt die Pro Vrin neue Impulse, als der an der ETH Zürich lehrende Agrarökonom Peter Rieder das Präsidium der Stiftung übernahm und sich der einheimische Architekt Gion A. Caminada darin zu engagieren begann – zwei Persönlichkeiten, die sich auf ideale Weise interdisziplinär ergänzten. Unter ihrer Ägide machte es sich die Pro Vrin zur Aufgabe, den Wandel, der aus der Melioration folgte, in wirtschaftlicher, kultureller und architektonischer Hinsicht in eine sinn- und massvolle Richtung zu steuern.


Der Fokus war auf das Schaffen von Strukturen gerichtet, die das Überleben der Gemeinde auf längere Sicht zu sichern versprachen. Dem Massentourismus schwor man bewusst ab, um das zu stärken, was seit Jahrhunderten die ökonomische Grundlage der Gemeinde gewesen war: die Landwirtschaft. In engem Kontakt und steter Auseinandersetzung mit der Bevölkerung, der Meliorationsgenossenschaft und den Gemeindebehörden erarbeitete die Pro Vrin ein Entwicklungskonzept, das die lokale Wertschöpfung ins Zentrum stellte.

Filmporträt 1988

Vrin – denter tradiziun purila e svilup (1988)
© Radiotelevisiun Svizra Rumantscha

Die Stiftung zeigte den Bauern auf, wie gross ein Berglandwirtschaftsbetrieb sein muss, damit er rentiert. Was es an Gebäuden braucht, damit am Ort auch verarbeitet werden kann, was dort entsteht. Wie sich mit einer Genossenschaft die lokalen Produkte direkt vermarkten liessen. Aus dem theoretischen Dorfmodell wurde das «Modell Vrin». Innert weniger Jahre wurden verschiedene Altbauten instand gestellt oder ergänzt und einzelne neue Wohnhäuser errichtet. An den Dorfrändern entstanden zeitgemässe Grossställe, in Parvalsauns eine Ziegenalp mit Sennereihütte und Stall. Eine Schreinerei/Zimmerei wurde vergrössert, die das Holz des Gemeindewaldes verarbeitet und auch ein kleiner Schlachthof gebaut, der Biofleisch und –würste ins Unterland verkauft. Und für die Pflege der Gemeinschaft hat man sich eine Mehrzweckhalle gegönnt.

Parvalsauns (© Ralph Feiner, Malans)
Gion A. Caminadas «Geissenalp» in Vrin-Parvalsauns, unmittelbar am Aufstiegsweg auf die Hochebene der Greina
Vrin, Mehrzweckhalle (© Ralph Feiner, Malans)
Die exponiert an die Hangkante platzierte Mehrzweckhalle von 1996 setzt am oberen Dorfrand von Vrin einen starken Akzent
Vrin, Ställe  (© Ralph Feiner, Malans)
Für die Errichtung zweier Grossställe (1994 und 1997) und der Metzgerei (1998/99) wurde in Sut Vitg unterhalb der Dorfkirche eine neue Bebauungszone ausgewiesen

Weiterbauen am Bestand

Dass sich die durchgreifende Reform der Vriner Landwirtschaft auf einem aussergewöhnlich hohen baukulturellen Niveau vollzog, ist das Verdienst von Gion A. Caminada. Er zeichnete für die bauliche Umsetzung des ökonomisch vorgedachten und sozial abgestützten Modells verantwortlich. Dem andernorts üblichen architektonischen Wildwuchs setzte Caminada eine aus der Analyse des Ortes hergeleitete Architektur entgegen, die nach optimalen Lösungen zwischen landwirtschaftlicher Funktionalität und Anliegen des Ortsbild- und Landschaftsschutzes sucht.

Gion A. Caminada zum «Projekt Vrin»
Gion A. Caminada

Vrin – lebenswert trotz Schutz des Dorfbildes
Terra Grischuna 1/1992

Interview

Anlässlich der Verleihung des SIA-Umsicht-Preises 2006/07

Im Auftrag der Gemeinde nahm er 1990/91 zusammen mit der kantonalen Denkmalpflege den Bestand der Wirtschaftsbauten von Vrin auf und klassierte sie nach ihrem Erhaltungszustand und ihrer Bedeutung fürs Ortsbild. Daraus gingen konkrete Lösungsvorschläge für den Umgang mit den betreffenden Bauten hervor. Die Studien wurden vom Schweizer Heimatschutz mit Geldern aus der Schoggitaler-Aktion 1991 unterstützt.

Anders als Jachen Ulrich Könz rund 50 Jahre zuvor, setzte Caminada nicht auf die Aussiedlung der bestehenden Betriebe und die unbedingte Konservierung des historischen Bestands. «Der Bauer bleibt im Dorf», hiess sein Programm, worin die Transformation als Notwendigkeit eingeschrieben war. Für die Stallbauten schälte er drei Möglichkeiten heraus: Erweiterung im Dorf, Erweiterung oder Neubau am Dorfrand, Neubau in einer separat ausgeschiedenen, ortsbildverträglichen Stallbauzone in Siedlungsnähe. Auf dieser Basis baute Caminada am Dorfkörper von Vrin weiter.

Caminadas Holzbauten, die sich ohne Anbiederung eng an den gewachsenen Habitus von Dorf und Landschaft anbinden, wurden zu viel beachteten Sinnbildern einer neuen, bescheidenen Moderne im Berggebiet. Vrin kann sich heute rühmen, das interessanteste alt-neue-Ortsbild von Graubünden zu haben.


Mit Hartnäckigkeit und politisch-diplomatischem Geschick war es Caminada gelungen, seinen Mitbürger:innen die eigene Umwelt sichtbar zu machen und sie davon zu überzeugen, dass sich umsichtiges Neu- und Weiterbauen positiv auf den Charakter der Gemeinde auswirkt. So dass diese schliesslich ein rigides Baugesetz nach seinem Willen erliess: kein Alpenkitsch, keine zu Ferienwohnungen umgebauten Ställe, kein Bauprojekt ohne Bauberater, kein Mindestabstand, keine Hecken, keine aufgeschütteten Gartensitzplätze, keine Zyklopenmauern, keine Umzäunung von Eigenheim-Parzellen, keine Zement-Verbundsteine, nichts, was die Komposition von Vrin stören könnte.

Filme von Christoph Schaub
Christoph Schaub

Lieu, funcziun e furma – l'architectura da Gion A. Caminada e Peter Zumthor (1996)
© Radiotelevisiun Svizra Rumantscha

Das im Auftrag des Romanischen Fernsehens produzierte Doppelporträt der Architekten Peter Zumthor und Gion A. Caminada trug viel zur allgemeinen Beachtung von Gion A. Caminadas Wirken in Vrin bei.

Christoph Schaub

Il Project Vrin (1999)
© Radiotelevisiun Svizra Rumantscha

Vorbildhafte Dorferneuerung

Mit dem Wakkerpreis 1998 anerkannte der Schweizer Heimatschutz, wie es der Gemeinde Vrin im Zuge der Güterzusammenlegung gelungen war, ein städtebauliches Entwicklungsprogramm nicht nur zu konzipieren, sondern auch zu realisieren. Vrin führt vorbildhaft vor, wie sich zeitgemässe landwirtschaftliche Gebäude mit entsprechendem Qualitätsanspruch in die traditionellen Siedlungsstrukturen eines Bergbauerndorfes eingliedern können. Die Basis für die Umsetzung dieser Massnahmen bildeten die Toleranz und das Verständnis der Einwohner:innen für die Tatsache, dass Weiterentwicklung nach aktiver Auseinandersetzung verlangt.

«Der Schweizer Heimatschutz würdigt die Sorgfalt, mit der die Gemeinde Vrin die für eine zeitgemässe Landwirtschaft erforderlichen Bauten in ihrem Dorf und ihren Fraktionen integriert und gleichzeitig durch organisatorische Massnahmen auch die wirtschaftliche Lage der bäuerlichen Bevölkerung fördert. Sie trägt damit zu einer lebensfähigen Dorfgemeinschaft bei.»

Berichte zur Wakkerpreis-Vergabe
Bericht

Für progressive Landwirtschaft
Heimatschutz, 1/1998, S. 40

Marco Badilatti

Wo Schlichtes noch das grosse Staunen lehrt. Vrin: Vom armen Bergbauerndorf zum Wakkerpreis-gekrönten Modell
Heimatschutz, 3/1998, S. 30–33

Larissa Bieler

Im Spannungsfeld zwischen Erhaltung und Erneuerung
Bündner Zeitung, 15.6.1998