Im Europäischen Jahr des Kulturerbes 2018 kam bei der Wakkerpreis-Vergabe ausnahmsweise keine Gemeinde, sondern eine Kulturinstitution zum Zug. Mit der Nova Fundaziun Origen in Riom ehrte der Schweizer Heimatschutz die Trägerin eines Kulturfestivals, die einem abgelegenen Bergdorf neue Impulse und Perspektiven gibt. Wie die drei Jahre zuvor ausgezeichnete Gemeinde Bergell erkannte auch Origen, dass Altbauten zugleich Ermöglichungsräume und identitätsstiftende Kulturobjekte sind, deren Pflege und Belebung einen wesentlichen Beitrag an die Zukunftsfähigkeit der Orte leistet.
«Origen» ist rätoromanisch und bedeutet: Ursprung, Herkunft, Schöpfung. Der Name steht für die grösste und eigenwilligste Kulturinstitutionen im Kanton Graubünden: das Origen Festival Cultural.
Origen arbeitet mit archaischen Theaterformen und interpretiert sie neu, abseits des Spartendenkens städtischen Kulturlebens. Es erobert extreme Landschaftsräume und schafft den theatralen Bezug zur Realität. Es erkundet den sakralen Raum und forscht nach Spuren kultischen Theaterlebens.
«Wir glauben an die Chance einer Kultur, die auf der Tradition einer Region oder eines Ortes aufbaut.» (Giovanni Netzer)
Origen wurde 2005 von Giovanni Netzer gegründet. Der Theologe, Kunsthistoriker und promovierte Theaterwissenschaftler ist in Savognin aufgewachsen und hat in München studiert. Für seine vielfältige Theaterarbeit wurde Netzer mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Bündner Kulturpreis und dem Hans Reinhart-Ring, der wichtigsten Auszeichnung im Theaterleben der Schweiz. Netzer schöpft mit kreativer Kraft aus dem Reichtum der regionalen Kultur und setzt sie mit der Gegenwart in Beziehung.
Origen - Kulturlabor am Alpenkamm
Vortrag anlässlich des Innenarchitektur-Symposiums «Soft Space». 10.3.2021
In siemi daventa realidad – Giovanni Netzer insceneda
Ein Traum wird Wirklichkeit – Giovanni Netzer inszeniert
Radiotelevisiun Svizra Rumantscha Cuntrasts, 2013
Seinen Mittelpunkt hat Origen in Riom im bündnerischen Oberhalbstein – oder Surses, wie die Talschaft zwischen Tiefencastel und dem Julierpass auf romanisch heisst. Riom ist ein kleines Dorf mit einer reichen Geschichte, die zwei Jahrtausende umfasst. Die Landwirtschaft hat den Ort geprägt und die umgebende Landschaft gestaltet. Die Wege über die Pässe Julier und Septimer bescherten ihm wirtschaftliche Blüte – aber auch politische Wirren und kriegerische Querelen.
Riom hat sich im Laufe der Zeit immer wieder neu erfunden. Archäologische Grabungen erzählen von einer römischen Herberge für reisende Kaufleute. Das Frühmittelalter benennt einen karolingischen Königshof. Im Feudalzeitalter errichteten die Herren von Wangen am Dorfrand eine mächtige Burg, die Gegenreformation liess im Zentrum eine prachtvolle Barockkirche entstehen. Nach einem verheerenden Dorfbrand 1864 erhielt der Ort ein «modernes» Strassenraster, stattliche Häuser und einen geräumigen Dorfplatz, wie es ihn in dieser Art im ganzen Surses sonst nirgends gibt. Einst eine eigenständige Gemeinde, ist Riom seit 2016 eine Fraktion der Fusionsgemeinde Surses.
Das 200-Seelen-Dorf Riom kämpft mit den typischen Problemen eines Bergdorfes in einer sogenannt «potenzialarmen» Region: Es ist betroffen von Abwanderung der Jugend, einer Überalterung der Dorfbevölkerung und schwachen Wirtschaftsstrukturen. Die Landwirtschaft, einst bei weitem der wichtigste Wirtschaftszeig, ernährt nur noch einen Bruchteil der Bevölkerung. Auswärts arbeiten ist die Normalität. Viele Häuser werden nur sporadisch benutzt – oder stehen gar ganzjährig leer. Seit der Gemeindefusion gibt es keine Post mehr, der Schulunterricht wurde ausgelagert, die öffentliche Verwaltung ebenso. Die Frage der Weiternutzung des Baubestandes ist zur bestimmenden Herausforderung der Ortsentwicklung geworden.
Origen hat den «Überfluss» an Räumen als entscheidenden Vorteil gegenüber der Stadt erkannt, wo Kulturraum notorisch Mangelware ist. Anstatt für die wachsende Institution einen neuen Kulturtempel zu planen, hat man den baulichen Bestand des Dorfes analysiert und auf dessen Gehalt hin überprüft. So wurden leerstehende Gebäude im Dorf nach und nach in Beschlag genommen und ebenso pragmatisch wie respektvoll für die eigenen Zwecke nutzbar gemacht.
In einem ersten Schritt hat Origen die symbolträchtige, auf einem Felssporn vor der Siedlung thronende und von weitherum sichtbare mittelalterliche Burg zum wetterunabhängigen Spielort umfunktioniert. Das raffiniert transformierte Burginnere wird im Sommer als Theaterraum genutzt.
Um dem Festival einen ganzjährigen Betrieb zu ermöglichen, belebte Origen das lange still ruhende Anwesen der aus Paris zurückgekehrten Zuckerbäcker-Familie Carisch am nördlichen Siedlungsraum: Die riesige Scheune wurde zum beheizbaren Aufführungsraum mit einer einzigartigen Atmosphäre umgebaut, die palazzo-ähnliche Villa Carisch gleich daneben zurückhaltend restauriert zum Foyer und Ort des Austausches verwandelt.
Die Transformation des mächtigen Ökonomiegebäudes in einen Kultur«tempel» wurde aufgrund seiner herausragenden architektonischen Qualität bei der vom Bündner Heimatschutz mit getragenen Auszeichnung Gute Bauten Graubünden 2017 prämiert.
Origen nutzt das gebaute Erbe von Riom nicht nur als Theaterkulisse, das Kulturfestival füllt viele Gebäude im Dorf auf verschiedenste Arten mit neuem Leben: Einige Mitarbeitende wohnen ganzjährig im Bergdorf. Während der Spielzeiten kommen 40 Praktikanten und Künstlerinnen dazu. Das moderne, stillgelegte Schulhaus am oberen Dorfrand dient als Probelokal und Produktionsbüro, das Haus Frisch am Dorfplatz wird im Sommer als einfaches Hotel genutzt – und in einem leeren Grossstall wurden Werkstätten für die Produktion der aufwändigen Kostüme eingerichtet. Das zentral gelegene Schul- und Gemeindehaus aus em 19. Jahrhundert soll zum Festivalzentrum werden.
Dem Dorf langfristig eine Perspektive geben
Marco Guetg im Gespräch mit Giovanni Netzer
Heimatschutz 1/2018
«Gebäude, die Freiräume für die eigene Phantasie eröffnen»
Stephanie Ehrsam im Gespräch mit Giovanni Netzer
Kunst + Architektur 2/2018
«Am Anfang war das Heimweh». Giovanni Netzer zeigt, wie Kulturerbe künstlerisch und wirtschaftlich inspirieren kann
NIKE-Bulletin 2/2021
Ausgehend vom eigenen kulturellen Erbe ist es Origen gelungen, eine Ausstrahlung weit über das eigene Tal hinaus zu entwickeln. Was im Surses produziert wird, findet seinen Widerhall im ganzen Kanton, in der Schweiz und über die Landesgrenzen hinaus. In wenig mehr als zehn Jahren hat Origen in der Region starke Impulse gesetzt und aufgezeigt, dass sich aus der ernsthaften Auseinandersetzung mit dem lokal vorhandenen Kulturerbe neue Chancen ergeben; dies gilt nicht nur für das Theaterschaffen, sondern ebenso für den Umgang mit der bestehenden Bausubstanz. In Riom ist Origen zum Motor für eine eigentliche Dorferneuerung geworden. Mit der Wakkerpreis-Vergabe 2018 anerkannte der Schweizer Heimatschutz dieses aussergewöhnliche Engagement, das modellhaft deutlich macht, welche wirtschaftlichen Potenziale jenseits des Massentourismus im Berggebiet auf ihre Aktivierung warten.
Wakkerpreis 2018: Nova Fundaziun Origen Riom (GR)
hrsg. vom Schweizer Heimatschutz, Zürich 2018