Im Europäischen Jahr des Kulturerbes 2018 kam bei der Wakkerpreis-Vergabe ausnahmsweise keine Gemeinde, sondern eine Kulturinstitution zum Zug. Mit der Nova Fundaziun Origen in Riom ehrte der Schweizer Heimatschutz die Trägerin eines Kulturfestivals, die einem abgelegenen Bergdorf neue Impulse und Perspektiven gibt. Wie die drei Jahre zuvor ausgezeichnete Gemeinde Bergell erkannte auch Origen, dass Altbauten zugleich Ermöglichungsräume und identitätsstiftende Kulturobjekte sind, deren Pflege und Belebung einen wesentlichen Beitrag an die Zukunftsfähigkeit der Orte leistet.

Ein eigenwilliges Festival ...

«Origen» ist rätoromanisch und bedeutet: Ursprung, Herkunft, Schöpfung. Der Name steht für die grösste und eigenwilligste Kulturinstitutionen im Kanton Graubünden: das Origen Festival Cultural.

Origen arbeitet mit archaischen Theaterformen und interpretiert sie neu, abseits des Spartendenkens städtischen Kulturlebens. Es erobert extreme Landschaftsräume und schafft den theatralen Bezug zur Realität. Es erkundet den sakralen Raum und forscht nach Spuren kultischen Theaterlebens.

Regina da Saba (© Benjamin Hofer / Origen)
Ephemeres Haus auf der Julierpasshöhe für das Tanztheater «Regina da Saba», 2010
Kraftwerkzentrale Tinizong (© Benjamin Hofer / Origen)
«Babylon-Suite» in der Kraftwerkkaverne Tinizong, 2012
Complet Müstair © Origen
Monastisches Abendgebet in der karolingischen Klosterkirche Müstair, 2014
Der König im Schnee (© Origen)
«Der König im Schnee», Freilichtaufführung in temporärem Theaterpalast auf dem Silvaplanersee, 2014

«Wir glauben an die Chance einer Kultur, die auf der Tradition einer Region oder eines Ortes aufbaut.» (Giovanni Netzer)
 

Origen wurde 2005 von Giovanni Netzer gegründet. Der Theologe, Kunsthistoriker und promovierte Theaterwissenschaftler ist in Savognin aufgewachsen und hat in München studiert. Für seine vielfältige Theaterarbeit wurde Netzer mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Bündner Kulturpreis und dem Hans Reinhart-Ring, der wichtigsten Auszeichnung im Theaterleben der Schweiz. Netzer schöpft mit kreativer Kraft aus dem Reichtum der regionalen Kultur und setzt sie mit der Gegenwart in Beziehung.

Origen verstehen
Giovanni Netzer

Origen - Kulturlabor am Alpenkamm
Vortrag anlässlich des Innenarchitektur-Symposiums «Soft Space». 10.3.2021

Bertilla Giossi

In siemi daventa realidad – Giovanni Netzer insceneda
Ein Traum wird Wirklichkeit – Giovanni Netzer inszeniert

Radiotelevisiun Svizra Rumantscha Cuntrasts, 2013

... mit Hauptsitz in Riom

Seinen Mittelpunkt hat Origen in Riom im bündnerischen Oberhalbstein – oder Surses, wie die Talschaft zwischen Tiefencastel und dem Julierpass auf romanisch heisst. Riom ist ein kleines Dorf mit einer reichen Geschichte, die zwei Jahrtausende umfasst. Die Landwirtschaft hat den Ort geprägt und die umgebende Landschaft gestaltet. Die Wege über die Pässe Julier und Septimer bescherten ihm wirtschaftliche Blüte – aber auch politische Wirren und kriegerische Querelen.

Riom, Luftbild 1947 (© ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv/Stiftung Luftbild Schweiz / Fotograf: Werner Friedli)
Riom, 1947. Das Luftbild zeigt schön die charakteristische Wechselwirkung zwischen kompakter Dorfanlage und unverbauter Hanglandschaft. Gut ablesbar ist auch die unterschiedliche Struktur des alten und des nach dem Dorfbrand von 1864 wiederaufgebauten, neuen Ortsteils

Riom hat sich im Laufe der Zeit immer wieder neu erfunden. Archäologische Grabungen erzählen von einer römischen Herberge für reisende Kaufleute. Das Frühmittelalter benennt einen karolingischen Königshof. Im Feudalzeitalter errichteten die Herren von Wangen am Dorfrand eine mächtige Burg, die Gegenreformation liess im Zentrum eine prachtvolle Barockkirche entstehen. Nach einem verheerenden Dorfbrand 1864 erhielt der Ort ein «modernes» Strassenraster, stattliche Häuser und einen geräumigen Dorfplatz, wie es ihn in dieser Art im ganzen Surses sonst nirgends gibt. Einst eine eigenständige Gemeinde, ist Riom seit 2016 eine Fraktion der Fusionsgemeinde Surses.

Riom (© James Batten / Schweizer Heimatschutz)
Ansicht von der Julierpassstrasse her
© James Batten / Schweizer Heimatschutz
Ansicht von Nordosten

Neues Leben im alten Dorf

Das 200-Seelen-Dorf Riom kämpft mit den typischen Problemen eines Bergdorfes in einer sogenannt «potenzialarmen» Region: Es ist betroffen von Abwanderung der Jugend, einer Überalterung der Dorfbevölkerung und schwachen Wirtschaftsstrukturen. Die Landwirtschaft, einst bei weitem der wichtigste Wirtschaftszeig, ernährt nur noch einen Bruchteil der Bevölkerung. Auswärts arbeiten ist die Normalität. Viele Häuser werden nur sporadisch benutzt – oder stehen gar ganzjährig leer. Seit der Gemeindefusion gibt es keine Post mehr, der Schulunterricht wurde ausgelagert, die öffentliche Verwaltung ebenso. Die Frage der Weiternutzung des Baubestandes ist zur bestimmenden Herausforderung der Ortsentwicklung geworden.

Digitaler Architekturrundgang

Dorfrundgang Riom
online gestellt vom Schweizer Heimatschutz

Das Vorhandene nutzen

Origen hat den «Überfluss» an Räumen als entscheidenden Vorteil gegenüber der Stadt erkannt, wo Kulturraum notorisch Mangelware ist. Anstatt für die wachsende Institution einen neuen Kulturtempel zu planen, hat man den baulichen Bestand des Dorfes analysiert und auf dessen Gehalt hin überprüft. So wurden leerstehende Gebäude im Dorf nach und nach in Beschlag genommen und ebenso pragmatisch wie respektvoll für die eigenen Zwecke nutzbar gemacht.

Das Sommertheater in der Burg

In einem ersten Schritt hat Origen die symbolträchtige, auf einem Felssporn vor der Siedlung thronende und von weitherum sichtbare mittelalterliche Burg zum wetterunabhängigen Spielort umfunktioniert. Das raffiniert transformierte Burginnere wird im Sommer als Theaterraum genutzt.

(© Benjamin Hofer / Origen)
Majestätisch thront die mittelalterliche Burg Riom ...
© Christian Beutler, Keystone
... auf einem Felssporn vor dem gleichnamigen Dorf
© Christian Beutler, Keystone
2006 erfolgte der Ausbau der Burg zum Theaterraum ...
(© Benjamin Hofer / Origen)
... der im Sommer bespielt werden kann

Das Wintertheater in der Scheune

Um dem Festival einen ganzjährigen Betrieb zu ermöglichen, belebte Origen das lange still ruhende Anwesen der aus Paris zurückgekehrten Zuckerbäcker-Familie Carisch am nördlichen Siedlungsraum: Die riesige Scheune wurde zum beheizbaren Aufführungsraum mit einer einzigartigen Atmosphäre umgebaut, die palazzo-ähnliche Villa Carisch gleich daneben zurückhaltend restauriert zum Foyer und Ort des Austausches verwandelt.
Die Transformation des mächtigen Ökonomiegebäudes in einen Kultur«tempel» wurde aufgrund seiner herausragenden architektonischen Qualität bei der vom Bündner Heimatschutz mit getragenen Auszeichnung Gute Bauten Graubünden 2017 prämiert.

© Christian Beutler, Keystone
Die neu bespielte Villa des ehemaligen Anwesens der Familie Carisch bildet mit dem aufgefrischten Vorplatz und der renovierten Scheune ein charaktervolles Ensemble
© Christian Beutler, Keystone
Die alte Scheune wurde umsichtig zum Theaterraum umgebaut ...
(© James Batten / Schweizer Heimatschutz)
... der auch im Winter benutzt werden kann

Räume zum Proben, Werken und Wohnen 

Origen nutzt das gebaute Erbe von Riom nicht nur als Theaterkulisse, das Kulturfestival füllt viele Gebäude im Dorf auf verschiedenste Arten mit neuem Leben: Einige Mitarbeitende wohnen ganzjährig im Bergdorf. Während der Spielzeiten kommen 40 Praktikanten und Künstlerinnen dazu. Das moderne, stillgelegte Schulhaus am oberen Dorfrand dient als Probelokal und Produktionsbüro, das Haus Frisch am Dorfplatz wird im Sommer als einfaches Hotel genutzt – und in einem leeren Grossstall wurden Werkstätten für die Produktion der aufwändigen Kostüme eingerichtet. Das zentral gelegene Schul- und Gemeindehaus aus em 19. Jahrhundert soll zum Festivalzentrum werden.

Giovanni Netzer zum Thema Dorferneuerung
Interview

Origen Festival in Riom: Mit Kultur der Abwanderung entgegenwirken
Nau, 2.6.2018

Interview

Dem Dorf langfristig eine Perspektive geben
Marco Guetg im Gespräch mit Giovanni Netzer
Heimatschutz 1/2018

Interview

«Gebäude, die Freiräume für die eigene Phantasie eröffnen»
Stephanie Ehrsam im Gespräch mit Giovanni Netzer
Kunst + Architektur 2/2018

Mila Trombitas

«Am Anfang war das Heimweh». Giovanni Netzer zeigt, wie Kulturerbe künstlerisch und wirtschaftlich inspirieren kann
NIKE-Bulletin 2/2021

Schulhaus Riom © Ralph Feiner, Malans
Das moderne Schulhaus wurde 2006 an eine Mehrzweckbau angebaut (A: Pablo Horváth) und verlor mit der Gemeindefusion seine angestammte Funktion. Origen nutzt den Bau heute als Produktionsbüro und Probelokal
Schul- und Gemeindehaus (© James Batten / Schweizer Heimatschutz)
Auch das ehemalige Schul- und Gemeindehaus am zentralen Dorfplatz dient Origen als Arbeitsort
Das Haus Frisch, das direkt gegenüber der barocken Kirche steht, wurde mit einfachsten Mitteln zum Sommerhotel umfunktioniert

Vorbildhaftes Inwertsetzen des Eigenen

Ausgehend vom eigenen kulturellen Erbe ist es Origen gelungen, eine Ausstrahlung weit über das eigene Tal hinaus zu entwickeln. Was im Surses produziert wird, findet seinen  Widerhall im ganzen Kanton, in der Schweiz und über die Landesgrenzen hinaus. In wenig mehr als zehn Jahren hat Origen in der Region starke Impulse gesetzt und aufgezeigt, dass sich aus der ernsthaften Auseinandersetzung mit dem lokal vorhandenen Kulturerbe neue Chancen ergeben; dies gilt nicht nur für das Theaterschaffen, sondern ebenso für den Umgang mit der bestehenden Bausubstanz. In Riom ist Origen zum Motor für eine eigentliche Dorferneuerung geworden. Mit der Wakkerpreis-Vergabe 2018 anerkannte der Schweizer Heimatschutz dieses aussergewöhnliche Engagement, das modellhaft deutlich macht, welche wirtschaftlichen Potenziale jenseits des Massentourismus im Berggebiet auf ihre Aktivierung warten.

«Im Kulturerbejahr 2018 wird die Nova Fundaziun Origen in Riom mit dem Wakkerpreis ausgezeichnet. Die Stiftung und ihr Kulturfestival Origen geben dem gebauten Erbe und damit einem ganzen Dorf neue Perspektiven. Die Grundlage dafür liefert das lokale Kulturerbe, das dank Origen weit über die Region hinausstrahlt.»

Broschüre und Faltblatt

Wakkerpreis 2018: Nova Fundaziun Origen Riom (GR)
hrsg. vom Schweizer Heimatschutz, Zürich 2018

Radiobericht

Wakkerpreis geht an Origen
Radio SRF, Regionaljournal Graubünden, 9.1.2018

Ludmila Seifert

Tipper-Kolumne: Wakker mutig? Gut so!
Bündner Tagblatt am Wochenende, 13.1.2018