Bis zur Einrichtung individueller Gebäudeanschlüsse mussten die Dorfbewohner mehrmals täglich am öffentlichen Brunnen im Ort Wasser holen. Heute haben die meisten Brunnen ihre Funktion als Wasserspender für Mensch und Tier sowie als Bezugsort für Lösch- und Brauchwasser für das Gewerbe oder die Wäsche verloren. Mit dem Aufschwung des Individualverkehrs nahm man alte Brunnen häufig nur mehr als Verkehrshindernis wahr und brach sie vielfach achtlos ab. Ein grosse Anzahl Brunnen wurden versetzt und aus der Platzmitte sprichwörtlich an den Rand gedrängt; so verloren sie neben ihrer ökonomischen und sozialen auch noch ihre raumstrukturierende Funktion. Wo sie heute noch am alten Ort in alter Form bestehen, verdienen sie, als Zeugen einer vergangenen Kultur und Wirtschaftsweise, mit Sorgfalt behandelt zu werden.
Wie andere Gemeinden, tut sich auch die Gemeinde Bergün/Filisur zuweilen schwer mit dem Erhalt ihres Brunnen-Erbes. Vor über 12 Jahren gab der geplante Abbruch des Ela-Brunnens im Ortskern von Bergün/Bravuogn zu reden. Massive Kritik, u.a. seitens des Bündner Heimatschutzes, hat die Zerstörung einstweilen verhindern können. Der als «baufällig» geschmähte raumgreifende Brunnen steht heute noch an seinem angestammten Ort.
Aktuell sind zwei Brunnen im hoch gelegenen Weiler Stugl/Stuls von kommunalen Abbruchgelüsten betroffen. Im Zusammenhang mit dem Bau einer Kläranlage werden die Werkleitungen im Ort erneuert und die Strasse saniert. Eine gute Gelegenheit, sich gleich auch zweier Dorfbrunnen zu entledigen. Auch dieses Ansinnen hat Widerstand hervorgerufen. Im März 2023 wurde die online-Petition Rettet die Dorfbrunnen von Stuls lanciert. 50 UnterstützerInnen wollte man gewinnen. Tatsächlich haben innert eines Monats 417 Personen die Petition unterschrieben. Das Thema bewegt offenbar.
Die Südostschweiz hat am 10. und 22. März 2023 über den geplanten Abbruch der Stuglser Brunnen berichtet
Anlässlich der Projektauflage hat sich auch der Bündner Heimatschutz kritisch zum geplanten Ansinnen geäussert – und die Gemeinde an ihre Sorgfaltspflicht gegenüber dem baukulturellen Erbe erinnert.
Der Weiler Stugl/Stuls figuriert im Bundesinventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz von nationaler Bedeutung ISOS. Das ISOS betont insbesondere die bäuerliche Prägung des Ortsbildes, die sich aus der Vergangenheit des Weilers als Bergbauerndorf erklärt.
Ein Ortsbild ist ein komplexes Gefüge, zu dem neben den Bauten auch Strassen, Plätze, Gärten und das umgebende Kulturland gehören. Selbstredend bestimmt auch die Möblierung des öffentlichen Raums die Qualität des Ortsbildes und dessen Schutzwürdigkeit mit. In einem Dorf mit bäuerlicher Identität sind Brunnen als Zeugen der einstigen Wohn- und Wirtschaftsweise wichtige ortsbildprägende Elemente.
Die vier Brunnen von Stugl/Stuls, die wohl im Zuge einer Modernisierung der kommunalen Wasserversorgung um die Mitte des 20. Jahrhundert errichtet worden sind, bilden eine eigentliche Brunnenlandschaft. Diese zeichnet sich durch die Variation eines einheitlichen Bauschemas aus. Typisch ist die Zweiteilung der rechteckigen Wasserbecken, die Materialisierung der Tröge aus Beton sowie deren Kombination mit pfeilerartigen, aus Bruchsteinen gemauerten Brunnenstöcken mit flachen, steinernen Deckplatten. Es handelt sich nicht um spektakuläre Objekte, sondern schlicht gestaltete Kleinarchitekturen, wie sie für den ländlichen Raum charakteristisch sind. Gerade durch ihre unaufgeregte Einfachheit vermögen sie zu überzeugen. Mit grosser Selbstverständlichkeit ins Terrain eingefügt, setzen sie innerhalb des Ortes diskrete Akzente. Ihre historische Bedeutung für die tägliche Wasserversorgung von Mensch und Vieh haben sie verloren, nicht aber ihre soziale Funktion als Treffpunkt von Einheimischen und Gästen. Werden sie entfernt, geht inmitten des Dorfes also nicht nur ein Stück Geschichte, sondern auch ein Stück Lebensqualität verloren.
Im Rahmen der Projektauflage hat sich der Bündner Heimatschutz kritisch vernehmen lassen